Wenn Sie, meine geneigten Leserinnen und Leser, in den 1970er bis 1990er Jahre die Gelegenheit hatten, geschäftlich oder privat in einen der sogenannten Ostblockstaaten zu reisen und dabei ein „gehobenes“ Speiselokal aufzusuchen, so werden Sie sich bestimmt noch an die Inneneinrichtung erinnern: bunt, viel Staffage und Kunststoff, alles etwas glitzernd. Diesen Eindruck hatten wir auch, als wir in den vergangenen Tagen das Restaurant „Victoria“, nur wenige Schritte vom Vervierser Hauptbahnhof entfernt, besuchten. Es liegt links vom Bahnhof an der Straße, die hinauf nach Heusy führt und wo man abends ohne Schwierigkeiten sein Auto abstellen kann. Der Eingang liegt an der Frontseite: Zuerst durchquert man einen kleinen Raum mit Theke und Kasse, dann einen weiteren Vorraum, in dem sich einige Tische befinden und dann erst öffnet sich der Blick auf einen größeren Saal, der uns bunt dekoriert entgegenglänzte. Adventszeit war jetzt im Dezember angesagt und entsprechend war der Saal geschmückt: viel Rot und Grün, im Hintergrund zwei Rundbögen aus Kunststoff, davor ein üppig behangener Christbaum mit dem unvermeidlichen Weihnachtsmann, Silberkugeln und Lametta. Die Tische waren einfach gedeckt, gemütliche braune Polsterstühle, ockerfarbene Bodenfliesen, die Wände und die Decke hell gestrichen. Wir wurden vom Chef Michel höchstpersönlich an unseren Tisch geführt.

Das Tripel von Val-Dieu

Marie Dumitru hat in der Küche das Sagen, Michel ist für den Service zuständig. Die Inhaber bieten eine preiswerte, bodenständige Küche für jedermann an.

Zum Aperitif bestellten wir uns ein Tripel von Val-Dieu, ein helles Starkbier, das auf dem Gelände der Abtei Val-Dieu in der Nähe von Aubel nach einem uralten Rezept der Zisterziensermönche gebraut wird. Es weist immerhin 9% Alkohol auf und schimmert goldgelb im Glas. Durch seine zweite Gärung in der Flasche ist es leicht getrübt, hat eine feste Schaumkrone und einen intensiven, sehr angenehmen Geruch. Es hat einen komplexen und ausgeglichenen Geschmack, zugleich leicht bitter und süß, schmeckt nach Hopfen und Gewürzen. Ein echtes belgisches Genussbier, das man in aller Ruhe abends im Sessel genießen sollte, das aber auch als Begleiter zu kräftigen Hauptspeisen ohne weiteres empfohlen werden kann. Hier im „Victoria“ kam es korrekt gekühlt an den Tisch und kostete lediglich 4,50 €. Wir teilten uns das Bier, denn nicht nur beim Aperitif sollte man sparsam mit dem Alkohol umgehen, wenn man seine Geschmacksnerven nicht allzu sehr strapazieren will. Leider wurde uns zum Bier nichts gereicht, nicht einmal gesalzene Erdnüsse und schon gar keine leckeren Grüße aus der Küche. Da ist auf jeden Fall noch Luft nach oben.

Camembert und Tournedos

Während des Aperitifs hatten wir genügend Zeit, uns die Speisekarte anzusehen, die sich wirklich sehr unprätentiös in Plastikhüllen präsentierte. Die Anzahl der verschiedenen Vorspeisen und Hauptgericht überraschte uns ein wenig, aber noch viel mehr waren wir über die niedrigen Preise erstaunt. Und da sich der Winter bereits angekündigt hat, schien uns der geschmolzene Camembert gerade richtig. Dieser weltbekannte Weichkäse aus der Normandie, der seinen Namen einem normannischen Dorf verdankt, wird aus Rohmilch hergestellt und der Käselaib mit einem essbaren Schimmel „geimpft“. Er schmeckt in der Regel kalt intensiver als in einer warmen Zubereitung. Falls Sie bei einem Käseabend Camembert oder Brie anbieten, so sollten Sie darauf achten, dass der Käse einige Stunden zuvor aus dem Kühlschrank genommen werden muss und bei Zimmertemperatur noch etwas „reifen“ sollte. Denn nur weich und kremig entfalten die französischen Weichkäse ihr volles Aroma und ihre unvergleichliche Sahnigkeit. Der Camembert en papillote kostete lediglich 12 €. „En papillote“ bedeutet so viel wie in Folie gegart. In der heutigen modernen Küche wird dazu meist Backpapier verwendet. So ziemlich aus der Mode gekommen ist Alufolie, dies nicht nur aus ökologischen, sondern auch aus gesundheitlichen Gründen, obgleich sich da die Experten nicht einig sind. Jedenfalls kam unsere große Portion Camembert in Alufolie an den Tisch, mit etwas Salat, einigen Gurkenscheiben und einem Löffel Lütticher Sirup. Der Käse war sahnig weich, sehr heiß und unten an der Folie etwas angebacken. In Kombination mit dem Sirup und den krossen Toastscheiben war es ein leckerer, doch auch sehr kalorienreicher Einstieg in das Menu. Allerdings ließ die Präsentation doch zu wünschen übrig, da hätten wir etwas mehr Chichi erwartet.

Adventszeit war im Dezember angesagt und entsprechend war der Saal geschmückt: viel Rot und Grün, im Hintergrund zwei Rundbögen, davor ein üppig behangener Christbaum mit dem unvermeidlichen Weihnachtsmann.

Als ich mein Tournedos bestellte, war ich ein bisschen verwirrt, dass Michel sich nicht nach der erforderlichen Garstufe erkundigte. Ich zögerte anfangs zwischen Tournedos Rossini und der „Sauce Royale“, entschied mich dann für letzteres, weil ich mich nicht dem Unmut der Tierschützer ausgesetzt sehen wollte, denn die Zubereitung von Rossini verlangt eine große Scheibe Foie gras, dessen Herstellungsweise ja vielen ein Dorn im Auge ist. Zu der „Königlichen Soße“ des Hauses muss einiges vorweggeschickt werden. Sie besteht aus Champignons, Paprika, Streifen von geräuchertem Speck, Knoblauch und Tomatensoße. Schon als sie an den Tisch kam, schlug mir der intensive Geruch von Knoblauch entgegen. Falls Sie so wie ich gerne diese würzige Zwiebel essen, ist diese Soße wie für Sie gemacht. Sie schmeckte hervorragend, aber der Knoblauch hatte es in sich. Diese Intensität findet man eigentlich nur in nordafrikanischen oder fernöstlichen Gerichten; oder aber in Osteuropa, wo der gesunde Knoblauch täglich gegessen wird. Noch am Tag danach trug ich eine gewaltige Knoblauchfahne vor mir her und verbreitete einen intensiven Geruch, den ich nur mühsam mit rohen Äpfeln zu bekämpfen versuchte. Neben diesem wahrhaft königlichen Knoblauchgenuss sollte aber auch das Fleisch erwähnt werden. Das Tournedos war medium gegart, eigentlich schon etwas zu gar für meinen Geschmack. Die Portion war sehr ansehnlich, das Fleisch von guter Qualität, der Preis mit seinen 19,50 € mehr als günstig. Lecker auch die knusprigen Fritten und die Salatmischung, die getrennt gereicht wurden. Insgesamt war der Hauptgang keine gastronomische Entdeckung, jedoch handwerklich einwandfrei zubereitet und korrekt abgeschmeckt, mit Ausnahme der „sauce royale“, die nur Knoblauchfans oder Eremiten angeraten werden kann. Doch man sollte sich von mir nicht abschrecken lassen.

Bei meinem nächsten Besuch werde ich mich noch einmal der Spezialität des Hauses hingeben, aber tags darauf bestimmt keinen Zahnarztbesuch einplanen. Der Hauptgang wurde wie die Vorspeise relativ schmucklos präsentiert, dafür fällt allerdings der Preis auch erstaunlich niedrig aus.

Der Muscadet

Als Michel uns das Menu zu Anfang des Abends präsentierte, bat ich auch um die Weinkarte. Die gab es jedoch nicht, denn auf der Speisekarte war lediglich der sehr kostengünstige Hauswein (7 €/Viertelliter) aufgeführt. Der Chef fragte lediglich, ob wir einen Weiß- oder einen Rotwein zu trinken wünschten. Als wir uns für ersteren entschieden, bot er uns einen milden und einen trockenen Wein an und meinte, beide seien nicht zu teuer. In der Tat kostete der „Château La Mouchetière“ aus dem Jahre 2022 lediglich 22 €. Es handelt sich dabei um einen trockenen Muscadet Sèvre et Maine Sur Lie. Dazu einige Erläuterungen. Dieses Weinanbaugebiet liegt ganz in der Nähe von Nantes unweit der Atlantikküste und der Loire.

Ein Wein mit der Qualitätsstufe Sèvre et Maine verfügt über eine geschützte Herkunftsbezeichnung. Dieser sortenreine Wein wird aus der Rebe Melon de Bourgogne gewonnen, die aber überhaupt nicht im Burgund angebaut wird, sondern hauptsächlich hier in Westfrankreich. Diese Rebsorte ist unter vielen Namen bekannt, so z. B. als Muscadet oder als Gros Auxerrois. „Sur lie“ bedeutet, dass der Wein erst dann auf Flaschen gefüllt wird, wenn er zuvor Monate lang im Fass mit der Weinhefe in Verbindung geblieben ist. Unser Wein wurde von Michel am Tisch entkorkt und professionell kredenzt. Im Glas duftete er fruchtig und mineralisch, schmeckte, da er gut gekühlt war, sehr erfrischend und angenehm ausgeglichen. Ein leichter, aber dennoch edler Wein, der in Frankreich in der Regel zu Austern getrunken wird.

Die Rumänen in Verviers

Das Restaurant „Victoria“ liegt nur wenige Schritte vom Vervierser Hauptbahnhof entfernt.

Das Restaurant ist ein typischer Familienbetrieb und führt seinen Namen auf den Platz zurück, der sich vor dem Bahnhofsgebäude befindet. Marie Dumitru hat in der Küche das Sagen, Michel ist für den Service zuständig.

Beide stammen aus Rumänien und haben dort an einer Hotelfachschule ihre Ausbildung erhalten. Michel hat dann eine Zeitlang auf einem Kreuzfahrtschiff angeheuert, später dann ab 1990 in verschiedenen Häusern der Gegend (Verviers, Banneux, Lichtenbusch) gearbeitet, bevor er 1998 hier an der Vervierser Gare Centrale das Restaurant kaufte.

Tochter Victoria arbeitet als Lehrbeauftragte für Japanisch an der Universität Lüttich und schaute bei unserem Besuch kurz vorbei.

Die Eltern sind stolz auf ihr Restaurant und wollen eine preiswerte, bodenständige Küche für jedermann anbieten. In der Tat sind die Preise fast unschlagbar.

Deshalb darf das Haus sich auch seit fast 30 Jahren auf eine treue Stammkundschaft aus dem Großraum Verviers verlassen, selbst aus Flandern und aus den Niederlanden finden die Schlemmer den Weg zu den belgischen Rumänen. Die Karte wechselt kaum, man passt sich bei den Empfehlungen den Jahreszeiten und dem Marktangeboten an. Bei unserem Besuch stand z. B. Hirschkalbsteak auf der Karte.

Zum Abschluss des Gespräches, an dem die Eltern und die Tochter teilnahmen, spendierte Michel uns noch einen kühlen Limoncello, ein Zeichen der Gastfreundschaft, die in Ost- und Südeuropa noch selbstverständlich ist. Fazit: Großes Stadtrestaurant in der Nähe des Vervierser Hauptbahnhofs, aparte Innendekoration, Bedienung durch den sympathischen Chef, minimale Weinauswahl, breite Palette an Gerichten, bodenständig, lecker, einfach, üppige Portionen, unschlagbares Preis-Leistungsverhältnis.