Sie sollen besonders natürlich, bekömmlich und gesund sein. Produkte aus Urgetreide sind angesagt. Wie bewerten Ernährungswissenschaftler und Ärzte diesen Trend?
«Im Vergleich etwa zu Weizen sind Produkte aus Urgetreide deutlich nahrhafter», sagt Harald Seitz vom deutschen Bundeszentrum für Ernährung in Bonn. «Herausragend ist ihr Gehalt an Mineralstoffen, vor allem an Zink.» Der Eiweißgehalt sei ebenfalls deutlich höher als der von Weizen, was Urgetreide für Veganer und Vegetarier besonders interessant macht.
Kamut, Emmer und Einkorn: Von Weizen verdrängt
Als Urgetreide gelten Getreidesorten, die schon vor Tausenden Jahren angebaut wurden. Je nach Definition zählen Emmer, Einkorn und Kamut dazu. Manchmal werden auch Hirse, Dinkel und Ur-Roggen in dieser Aufzählung genannt. Geschützt ist der Begriff nicht.
Gemeinsam haben diese Sorten, dass sie früher weit verbreitet waren, dann aber von anderem Getreide – vor allem Weizen und Roggen – verdrängt wurden. Bei diesen sind die Erträge nämlich deutlich höher. Sie sind damit besser fürs Geschäft der Produzenten.
Experte: Höheres Allergierisiko bei modernem Getreide
Vor allem im Vergleich zu modernem Weizen gilt Urgetreide als bekömmlicher. «Eine aktuelle Untersuchung zeigt, dass Weizen als Ursache für atypische Allergien auf Platz eins liegt», erklärt Prof. Detlef Schuppan, Direktor des Instituts für Translationale Immunologie an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. «Demnach haben etwa fünf Prozent der Gesamtbevölkerung ein atypisches Allergieproblem mit Weizen.» Das kann sich etwa durch Blähungen, Übelkeit oder Bauchkrämpfe äußern.
Das Problem: Oft bemerken Patienten gar nicht, dass ihre Symptome mit dem Verzehr von Weizen zusammenhängen, da diese Reaktionen nicht unmittelbar eintreten.
Einfach mal weglassen
«Wenn man als Patient selbst das Gefühl hat, eine bestimmte Getreidesorte nicht zu vertragen, kann man einmal ausprobieren, Gluten oder moderne Weizenprodukte wegzulassen», rät der Mediziner. «Dabei kann man nichts verlieren. Ich habe es noch nie erlebt, dass jemand Urgetreide schlechter verträgt als moderne Sorten.»
Verantwortlich dafür ist dem Experten zufolge die Anzahl der enthaltenen Gene. «Je älter eine Sorte ist, desto weniger Gene enthält sie, desto weniger Proteine werden produziert, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese allergen sind», erläutert Schuppan. Da moderner Weizen über viele Gene verfüge, sei es wahrscheinlicher, dass er Allergien auslöse.
Doch es kommt es nicht allein auf die Art des Getreides, sondern auch auf die Verarbeitung an. Diese bewerten Fachleute vor allem bei Weizen oft kritisch. Sie habe sich stark verändert, so Schuppan. «Heute gibt es meist nur eine kurze Fermentationszeit – und in dieser werden Allergene abgebaut.» Das sei vor 100 Jahren noch ganz anders gewesen. «Früher war eine lange Teigführung Standard. Auch das trägt dazu bei, dass heute mehr Menschen empfindlich auf Weizenprodukte reagieren.»
Mit Urgetreide backen? Gar nicht so einfach
Wer selbst einmal Urgetreide ausprobieren möchte, kann das in verschiedener Form tun: «Urgetreide kommt zumeist als ganzes Korn, Schrot oder Flocken zum Einsatz», erklärt Ernährungswissenschaftlerin Manuela Marin.
Beim Backen mit den alten Sorten kann man allerdings kein Rezept für Weizenmehl verwenden und dieses einfach durch Emmer oder Kammut ersetzen: «Backtechnisch wird Urgetreide oft anderen Getreidesorten zugemischt», sagt Marin. «Es erfordert im Allgemeinen bei der Verarbeitung zu Backwaren größere Erfahrung und Geschicklichkeit in der Teigführung.»
Nicht so ertragreich wie Roggen und Co.
Obwohl viele Bioläden und inzwischen auch klassische Supermärkte Produkte aus Urgetreide im Sortiment haben: Weizen und Roggen werden durch die alten Körner nicht so schnell zu ersetzen sein. Denn neben der Verarbeitung gibt es auch beim Anbau Unterschiede.
«Urgetreide sind zwar äußerst genügsam, was ihre Ansprüche an den Standort und die Nährstoffversorgung angeht», erklärt Ernährungswissenschaftler Harald Seitz. «Sie müssen weniger gedüngt werden als die modernen Getreide-Klassiker und sind unempfindlicher gegenüber Schädlingen und Krankheiten.» Dafür seien die Erträge nicht so hoch wie bei Weizen oder Roggen.
Und da Brötchen, Kuchen und andere Teigwaren stets gefragt sind, setzen Hersteller weiterhin eher auf die klassischen Getreide. Einfach, um den großen Bedarf zu decken. (dpa/Foto: Armin Weigel/dpa/dpa-tmn)