Pastinaken, Kartoffeln und Rote Bete erwartet man eher im Kochtopf, nicht im Nachtisch. Dabei machen sich viele Gemüsesorten auch in süßen Speisen gut. «Wenn man von Gemüse im Dessert spricht, hört sich das erst einmal sehr extravagant an. Aber schon so lange ich denken kann, macht meine Großmutter einen großartigen Karottenkuchen», sagt René Frank. Der Patissier ist Gründer des Coda in Berlin, einem Restaurant, in dem Menüs aus Desserts kreiert werden. 2020 hat es seinen zweiten Michelin-Stern bekommen. Wird es bei René Frank süß, dann nur durch bewusste Reduktion von Zucker. Er setzt auf natürliche Süßungsmittel wie Honig oder Rübensirup – und arbeitet mit der Süße, die die Produkte mitbringen. Das funktioniere wie bei Beeren und Früchten.
Mit Gemüse im Dessert automatisch weniger Zucker
«Wenn ich im Dessert Gemüse einsetze, reduziere ich den Zucker automatisch», erklärt Christian Hümbs, Chef-Pâtissier im The Dolder Grand in Zürich und Juror in der TV-Sendung «Das große Backen». Seit mehr als zehn Jahren spielt in seinen Desserts Gemüse eine Rolle. Tatsächlich bringen viele Gemüsesorten mehr Süße mit, als man denkt. «Ein Zitronensorbet ist wesentlich bekannter als Karotten-Eis. Aber bei der Zitrone muss ich sehr viel Zucker dazugeben», erklärt René Frank. Mit guten Möhren könne er nur mit der Eigensüße ein sehr leckeres und fruchtiges Ergebnis erzielen, wenn er den Saft einkoche. Möhren-Eis klingt außergewöhnlich, dabei kennt man Gemüse in süßer Form – Rhabarber-Kompott etwa. Auch in anderen Ländern finde man Gemüse in Desserts, erzählt Frank. «In Japan und anderen asiatischen Ländern nutzt man traditionell rote Azukibohnen. In Korea gibt es extrem süße Tomaten, die auch in Süßspeisen verwendet werden.» Auch in Italien werde ein traditionelles Schokoladen-Dessert mit gebackener Aubergine zubereitet. «Natürlich ist es nicht so populär, weil es nicht so einfach ist. Es ist leichter, mit einem Apfel, einer Birne oder einer Passionsfrucht eine Süßspeise zu machen als mit einer Aubergine», sagt Frank.
Von blauen Kartoffelkuchen bis Zucchini-Muffins
Das bedeutet aber nicht, dass die süße Gemüse-Küche Spitzenköchen vorbehalten ist. Auch zu Hause könne man experimentieren. In dem Buch «Vergessene Klassiker» beschreiben Kathleen und Yves Paccalet etwa einen blauen Kartoffelkuchen mit Zitrone, der aus violetten Trüffelkartoffeln, Eiern, Kartoffelstärke und Zucker gemacht wird. Viele Ideen – von Spinat-Beignets mit Rohrzucker über Maronenkuchen mit Fenchel bis Zucchini-Muffins mit Olivenöl – finden sich auch in dem Buch «Alles Gemüse! Genussvolle Desserts mit Gemüse» der französischen Moderatorin und Restaurantkritikerin Julie Andrieu. Christian Hümbs hat in seinem Backbuch «Richtig gut backen» neben Möhren-Mascarpone-Cupcakes auch Muffins mit weißer Schokolade und Roter Bete aufgenommen. Der süßsäuerliche, erdige Geschmack der Roten Bete harmoniere gut mit der Süße von weißer Schokolade, erklärt er. Außerdem gibt Rote-Bete-Saft dem Muffin eine intensive Farbe.
Das Geheimnis liegt in der Kombination der Zutaten
Wichtig sei, unterschiedliche Zutaten zu kombinieren, so Hümbs. «Nur eine Petersilienwurzel als Dessert zu servieren, wäre etwas eintönig.» Viele Gemüse ließen sich gut mit fruchtigen und beerigen Noten verfeinern. Das kenne man von der Kombination Karotte-Orange. «Für Menschen, die anfangen zu experimentieren, gebe ich den Tipp, Gemüse zu nehmen, bei dem im Rohzustand schon eine gewisse Süße vorhanden ist – reife Tomaten oder Erbsen beispielsweise», rät Hümbs. Vanilleeis schmecke gut mit Tomaten und einer Balsamico-Vinaigrette. «Man wundert sich, wie gut das zusammenpasst.»
Karamellisierter Knoblauch entwickelt Kakao-Aroma
Hümbs empfiehlt, sich heranzutasten. «Man muss ja nicht gleich mit Knoblauch starten.» Aber auch das ginge. René Frank nutzt für ein Dessert schwarzen Knoblauch, der mit Petersilienwurzeleis kombiniert wird. Durch das Karamellisieren werde der Knoblauch sehr mild und entwickele Aromen in Richtung Kakao, Kaffee und Balsamico, erklärt der Patissier. Das Eis bereitet er mit entsafteter Petersilienwurzel, Kokosmilch und Honig zu. In seinem Dessert-Restaurant verwendet er viele regionale und saisonale Produkte. «Wir hatten im Spätsommer ein Dessert mit gelber Tomate aus Brandenburg auf der Karte», erzählt er. Die fast überreifen Tomaten wurden zu einer Art Marmelade eingekocht, die mit einem Mousse aus Kichererbsen und Eis aus Tomaten serviert wurde. Dazu gab es pflanzenbasiertes Baiser, aufgeschlagen aus dem Kochwasser von Kichererbsen.
Sehr gut eignen sich Wurzelgemüse für Desserts, weil sie viel Eigensüße mitbringen. Um diese zu extrahieren, kocht René Frank den Gemüsesaft ein. Das funktioniere etwa mit Roter und Gelber Bete oder Süßkartoffeln. Sehr gerne verwendet der Patissier auch Karotten in verschiedenen Farben. Der eingekochte Saft von gelben Möhren entwickele ein fruchtig-orangiges Aroma, lilafarbene ein beeriges. Für ein Dessert hat Frank Kugeln von lilafarbenen Karotten ausgestochen, im eigenen Saft gegart, leicht angetrocknet und sie Winterblaubeere genannt. «Weil es tatsächlich so schmeckt.» Dazu passe eine Mousse aus Joghurt und Hafermilch.
Dessert-Kreationen aus Grünzeug oder Fichten
Aber auch aus Grünzeug lassen sich Desserts kreieren. «Ich liebe es, mit Salat zu arbeiten – sei es Kopfsalat, Römersalat oder auch Feldsalat und Rucola», erzählt Christian Hümbs. Einer seiner ersten Klassiker in diesem Bereich entstand auf Sylt: Kopfsalat mit Passionsfrucht, weißer Schokolade und Gurke.
Ein anderer Klassiker ist ein Dessert mit harzigen Aromen aus dem Wald. Dafür verwendet er Douglasiensprossen, Fichtensprossen oder Fichtenzweige und kombiniert sie mit Buchweizen und Akazienhonig.
Marco D’Andrea, Gault-Millau-«Pâtissier des Jahres 2020» und Executive Chef Pâtissier im The Fontenay in Hamburg hat jahrelang mit Gemüse experimentiert. Auch wenn er seinen Gästen inzwischen klassische, süße Sachen serviert, treffen in seinen Desserts süße, saure und salzige Geschmackskomponenten aufeinander. Auch Gurke lässt sich finden – in Kombi mit weißer Schokolade und Passionsfrucht. «Was ich gerne verwende, sind Kräuter, weil man damit immer schöne Aromen ans Gericht bekommt», erzählt er. (dpa/Foto: Jan C. Brettschneider/DK Verlag/dpa-tmn)