Anfang des Jahres wurde Gary Kirchens in der traditionsreichen Brüsseler Villa Lorraine von der Nummer zwei auf den Posten des Küchenchefs befördert. Eigentümer Serge Litvine vertraute dem damals 28-jährigen Eupener die 22-köpfige Küchenbrigade des großen Restauranklassikers an der Avenue du Vivier d’Oie an. Zeit für eine Zwischenbilanz nach einem ereignisreichen Jahr.
Welche Bilanz ziehen Sie nach den ersten Monaten als Küchenchef?
Eine sehr positive. Ich habe inzwischen eine sehr treue und passionierte Brigade, in der jeder mitzieht. Ich habe neue Regeln aufgesetzt und eine ganz neue Karte entwickelt, wobei ich die reiche Tradition der Villa Lorraine natürlich beachte. Wir ändern regelmäßig die Karte, überlassen aber nichts dem Zufall. Wir testen vorab jedes Gericht.
Wie hat die Kundschaft auf Ihre Küche reagiert?
Sehr gut, die ersten sechs Monate war viel neue Kundschaft dabei, sicherlich auch aus Neugierde. Daraus hat sich zum Teil Stammkundschaft entwickelt. Die langjährige Kundschaft hat den Wechsel gut aufgenommen und kommt regelmäßig zurück. Anfangs kamen 90 Prozent der Kundschaft für die Villa Lorraine, heute immer mehr Menschen für meine Küche.
Die Villa Lorraine ist halt nicht irgendein Restaurant. Ist hier der Druck größer als anderswo?
Den „Druck „machen wir uns größtenteils selber, weil wir jeden Tag versuchen, uns zu übertreffen. Jeder Kunde zählt und ist wichtig. Die Kundschaft, die die Villa Lorraine besucht, hat große Erwartungen. Die Villa Lorraine war 1972 das erste Haus, das außerhalb von Frankreich drei Michelin-Sterne erhielt. Das haben viele Gäste nicht vergessen.
Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit Yves Mattagne (Sea Grill), der Ihnen als „Coach“ zur Seite steht?
Yves Mattagne hat gute Ratschläge vor allem im Managementbereich. Für meine Karte ist er offen, wenn ich Tipps brauche, beeinflusst sie aber keineswegs.
Welche Rolle haben die Terroranschläge vom 22. März gespielt?
Die ersten zwei Wochen haben wir 80 Prozent Umsatz verloren, danach 30 Prozent während eines Monats. Seitdem profitieren wir von der Kundschaft, die das Zentrum meidet und zu uns ein wenig außerhalb kommt. Wir haben seitdem bessere Zahlen, was nicht der Fall in vielen Restaurants im Zentrum von Brüssel ist. Der Tourismus hat seitdem stark nachgelassen, sodass die Hotelbranche darunter leidet.
Den erhofften zweiten Stern haben Sie noch nicht erringen können. Was fehlt dem Haus noch für den „Aufstieg“? War Ihr Arbeitgeber enttäuscht?
Enttäuscht waren der Arbeitgeber und ich selber nicht. Der Stern gehörte der Villa Lorraine und nicht mir. Jetzt „gehört“ er mir. Wir brauchen Regularität, hier bin ich der dritte Küchenchef innerhalb von vier Jahren. Das waren zu viele Wechsel innerhalb kurzer Zeit. Der Michelin braucht eine Identität für den Aufstieg, die wir jetzt bestätigen müssen. Wir arbeiten jeden Tag daran, unsere Kundschaft zufrieden zu stellen und den Michelin zu überzeugen. Nächstes Jahr kann ich Ihre Frage besser beantworten…
Eine nicht ganz ernstgemeinte Frage für die ostbelgischen Feinschmecker: Mit Ricarda Grommes hat St.Vith nun neben Eric Pankert einen zweiten Stern. Wann holen Sie den ersten Stern nach Eupen, da die Selbstständigkeit wohl irgendwann auch zu Ihren Zielen gehören dürfte?
Erstmals bin ich sehr froh für Ricarda Grommes und habe ihr direkt bei der Zeromonie in Gent gratuliert. Momentan fühle ich mich sehr wohl in Brüsssel, es ist jeden Tag eine tolle Herausfordung. Die Selbstständigkeit ist mein Ziel, aber momentan nicht meine Priorität… (hegen)
ZUR PERSON: Gary Kirchens
Trotz seines jungen Alters hat Gary Kirchens jede Menge Rüstzeug bei Spitzenköchen sammeln können. Seine Lehre macht er bei Arthur Genten im Restaurant Delcoeur an der Gospertstraße sowie am ZAWM. Sein dortiger Mentor Jürgen Jordans ebnete ihm den Weg 2007 ins Oustau de Baumanière in Baux de Provence. Er kochte bei dem legendären Pierre Gagnaire in Courchevel, und unter den Fittichen von Sylvestre Wahid, einem Ducasse-Schüler, im „Le Strato“ in Courchevel. „Dort haben wir in zwei Jahren zwei Sterne erkocht“, blickt der Eupener auf diese Zeit zurück. Wahid war es schließlich auch, der ihn bei der Villa Lorraine ins Gespräch brachte. Doch zuvor hatte er seine vielleicht wichtigste Etappe vor der Rückkehr ins Heimatland: Le Cinq im Four Seasons Hotel George V. in Paris. Dort war er drei Jahre aktiv, wurde an der Seite von Eric Briffard (zuvor bei Joël Robuchon) zum jüngsten Chef de Partie aller Zeiten und half Anfang 2015 mit, den dritten Stern mit dem inzwischen verantwortlichen Christian Le Squer zurückzuerobern. „Von Briffard habe ich mir küchentechnisch viel abgeschaut, bei Wahid viele Managementsachen“, berichtet der heute 29-Jährige. Und dann kam Brüssel. Beim prestigeträchtigen Wettbewerb „L’Etoile de la Cuisine belge“ zog er im vergangenen Jahr ins Finale ein und gewann den Publikumspreis. Kurze Zeit nach seiner Einstellung stieg er in der Villa Lorraine von Position zwei auf den Chefposten in der Küche auf. (hegen)