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250 Test-Essen pro Jahr – Im Gespräch mit dem Michelin-Chefredakteur

Nun wissen die Köche, woran sie sind, zumindest was Punkte bzw. Sterne angeht. Der Monat November ist für sie immer mit einer besonderen Spannung verbunden, da die großen Restaurantführer vorgestellt werden. Nach dem Gault&Millau war am Montagabend in Gent der Guide Michelin an der Reihe. Wir unterhielten uns mit Chefredakteur Werner Loens, der seit über drei Jahrzehnten für die Bibel der Gastronomie arbeitet und der Michelin-Redaktion seit zwölf Jahren vorsteht.

2016 schloss Geert Van Hecke das „De Karmeliet“ in Brügge und Ende dieses Jahres werden es ihm Gert De Mangeleer und Joachim Boudens mit dem „Hertog Jan“ in Zedelgem gleich tun – sich freiwillig von drei Sternen verabschieden. Seit Montagabend steht fest, dass Belgien nur noch ein einziges Drei-Sterne-Restaurant haben wird, nämlich den „Hof Van Cleve“ von Peter Goossens in Kruishoutem. Eine einzige Drei-Sterne-Adresse in Belgien, das hat es seit 40 Jahren nicht mehr gegeben. Hoffnungen von Häusern wie dem „L’air du temps“ von Sang-Hoon Degeimbre in Liernu oder dem „Bon-Bon“ von Christophe Hardiquest in Brüssel, endlich in den Koch-Olymp aufzusteigen, zerschlugen sich erneut.

Die bedeutendsten Veränderungen in der Spitze betrafen David Martin („La Paix“ in Brüssel) und Maxime Collard („La Table de Maxime“ in Paliseul). Beide verbesserten sich auf zwei Sterne. Für den Osten des Landes gab es nichts Neues: „Zur Post“, „Quadras“ (beide St.Vith) sowie „La Menuiserie“ (Weismes) verteidigten ihren jeweiligen Stern. Der Mann, der mit seiner Equipe Karrieren beflügelt bzw. hohe Erwartungen zerstört, heißt Werner Loens. Der 57-Jährige ist Chefredakteur des Guide Michelin.

Wie geht es der belgischen Gastronomie im Jahr 2018?

Ihr geht es gut. Wir haben in diesem Jahr wenige Sternerestaurants wegen ihrer Qualität verloren. In diesen Fällen ging es eher um eine Änderung des Konzepts bzw. um Schließungen, Umzüge oder Veränderungen bei den Küchenchefs. Belgien bleibt in Sachen Gastronomie weiter gut aufgestellt. Gerade in der Wallonie registrieren wir, dass die Häuser oft gut besetzt sind – sowohl bei den Sternerestaurants als auch bei preiswerteren Bib Gourmands. Man kocht gut, man isst gut.

Welche Besonderheit zeichnet den Guide 2019 aus?

Der Guide verdeutlicht vor allem die Stabilität in der belgischen Küche. Natürlich hat es für die Restaurants durch die Einführung der Registrierkasse eine Reihe von Veränderungen gegeben. Insgesamt hat sich die Branche aber stabilisiert. Wir haben mehrere Restaurants zum ersten Mal mit einem zweiten Stern ausgezeichnet. Man merkt, dass in den Küchen Talent vorhanden ist, das es zu verfolgen gilt.

Mit Peter Goossens hat Belgien nur noch einen Drei-Sterne-Koch. Foto: Photo News

Gibt es einen Küchentrend, der sich für ganz Belgien erkennen lässt?

Nein, das nicht unbedingt. Man spürt natürlich, dass sich viele Küchenchefs von der Internationalisierung inspirieren lassen. Man kann vielleicht bedauern, dass einige dem Dekor des Tellers mehr Aufmerksamkeit schenken als dem, was darauf liegt. Es ist schwer zu sagen, ob es eine belgische Küche gibt. Fest steht, dass unsere Küche auf der französischen basiert. Wir haben aber Vorlieben für eine bürgerlichere Küche. Ich denke gerade in Ihrer Region zurzeit an das Wild. Viele Zubereitungen fußen auf Produkten aus der Region. Die Köche, aber auch die Menschen entwickeln sich durch ihre Reisen. Die belgische Küche wird daher von neuen Techniken und exotischeren Produkten beeinflusst.

Mit dem „Hof Van Cleve“ gibt es nur noch ein Drei-Sterne-Haus. Ist das nicht eine Enttäuschung?

Nein. Mit dem Rückzug von „Hertog Jan“ verlieren wir ein Drei-Sterne-Haus, so wie es mit „De Karmeliet“ bereits der Fall war. Das ist natürlich schade. Für uns gibt es aber keine Enttäuschung. Wir konstatieren nur, was vor Ort passiert. Die Inspektoren speisen jeden Tag an unterschiedlichen Orten in Belgien und Luxemburg. Wir haben bislang unter den Zwei-Sterne-Restaurants noch keines gefunden, das den dritten Stern verdienen würde. Jedes Jahr gibt es einen Guide, jedes Jahr ist etwas möglich.

Warum sind Länder wie Deutschland und die Niederlande längst an Belgien vorbeigezogen?

Ich würde nicht sagen, dass sie vorbeigezogen sind. Das Ganze ist verschiedenen Umständen geschuldet, beispielsweise dass zwei Restaurants mit drei Sternen binnen weniger Jahre den Betrieb einstellen. Die Niederlande haben ja erst seit dem vergangenen Jahr erstmals überhaupt ein Drei-Sterne-Restaurant. Das alles hängt von vielen Faktoren ab. In Belgien gibt es viele hoffnungsvolle Nachwuchsköche, die derzeit aber noch nicht das Niveau für drei Sterne haben. Ich möchte auch daran erinnern, dass drei Sterne für eine außergewöhnliche Küchenleistung stehen. Alle Restaurants mit zwei Sternen sind Top-Adressen, die sich mit der Spitzenküche europa- und weltweit messen können. Wir haben eine Basis mit vielen talentierten Küchenchefs, die ihr Handwerk verstehen.

Was fehlt einem Restaurant wie „Bon-Bon“ beispielsweise zum dritten Stern?

Jedes Jahr kehren wir mehrere Male in dieses und ähnliche Häuser zurück. Die Entscheidung wird am Ende im Kollegenkreis getroffen. Im Bereich der Zwei- und Drei-Sterne-Häuser setzt der Guide Michelin auch Inspektoren aus anderen Ländern ein, damit die Entscheidungen homogen zu den anderen Ländern getroffen werden.

Was unterscheidet ein Restaurant mit zwei Sternen von einem Restaurant mit drei Sternen. Geht es hier nicht nur um Emotionen und Tagesform?

Für mich sind die Küchenchefs Künstler. Die besten unter ihnen inspirieren die Jungen, ihnen zu folgen, die Küche von der einen in die andere Epoche zu begleiten. Menschen, die dieses Talent haben, sind rar.

Zählt bei Ihnen wirklich nur das, was auf dem Teller liegt? Spielen Ambiente und Service bei der Bewertung keine Rolle?

Der Teller ist für uns im Mittelpunkt. Wir bewerten nach fünf objektiven Kriterien, was bei allen Küchenstilen möglich ist. Service und Ambiente sind immer subjektiv, einer mag es modern, der andere romantisch. Im Service ist vieles personalabhängig. Mal ist gutes, mal weniger gutes Personal im Einsatz. Das ist schwierig zu bewerten. Bei der Bewertung des Verhältnisses von Preis und Leistung fließt es aber ein. Wenn im mittleren Preissegment gut gegessen wird, schaue ich vielleicht über einen schlechteren Service hinweg. Wenn ich aber 250 Euro pro Person bezahlt habe, dann muss auch der Service stimmen. Der Inspektor wird notieren, dass der Service nicht stimmig zum Preis war.

Das Herz der belgischen Gastronomie schlägt in Flandern. Warum?

Das würde ich so nicht sagen. Es ist nun einmal so, dass in Flandern mehr Menschen leben als in der Wallonie. Wenn man die Zahl der Sternerestaurants vor diesem Hintergrund vergleicht, sind beide ebenbürtig.

Wie können die Restaurants auf ausufernde Kosten reagieren? Viele kürzen die Öffnungszeiten und beschränken sich auf vier Tage.

Wir sagen den Gastronomen nicht, was sie zu tun haben. Wir bewerten nur ihre Arbeit. Wir sind weder Buchhalter noch die Restaurantpolizei. Jeder Restaurantbesitzer muss sein Konzept und seine Rechnung für sich machen.

Wie werde ich überhaupt Michelin-Inspektor?

Wir haben eine Mannschaft, die in Belgien und Luxemburg arbeitet und auch im Ausland – beispielsweise in Deutschland, Frankreich oder den Niederlanden – aktiv ist. Die Inspektoren sind alle ausgebildet und angestellt bei Michelin. Alle brennen für ihren Job und haben eine große Leidenschaft für die Gastronomie. Alle haben vorher beruflich etwas mit der Branche zu tun gehabt. Wir haben, das kann ich Ihnen versichern, genügend Personal, um unsere Aufgabe korrekt zu verrichten.

Wie gut kennen Sie die ostbelgische Szene? Trauen Sie einem der drei Sternehäuser einen zweiten Stern zu?

Ich kenne alle drei. Wir verfolgen alle Sternehäuser. Ich kann natürlich nicht in die Zukunft schauen. Eines ist aber sicher: Es gibt sicherlich Talent in den Ostkantonen.

Sie essen rund 250 Mal pro Jahr im Auftrag des Michelins. Machen Restaurantbesuche noch Spaß?

Ja! Das ist meine Leidenschaft, mein Biotop. Wenn ich drei Tage nicht im Restaurant war, dann fühle ich mich krank, werde nervös und für mein Umfeld unerträglich. Restaurantbesuche sind wie eine Droge für mich. (hegen)

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