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Marie-Anne Raue: „Der zweite Lockdown ist eine viel größere Herausforderung“

Ihm wurde eine eigene Folge in der Netflix-Serie «Chef’s Table» gewidmet, außerdem belegt es Platz 34 auf der Liste der 50 besten Restaurants: Das Restaurant Tim Raue in Berlin ist international bekannt. Es hat zwei Michelin-Sterne und ist oft auf Monate ausgebucht. Aufgrund der Corona-Pandemie hat es die Gastronomie aber gerade alles andere als leicht.

Marie-Anne Raue ist die Geschäftspartnerin von Tim Raue, die beiden führen das Restaurant seit zehn Jahren. Im Interview spricht die gebürtige Berlinerin über missglückte Kochexperimente, den Umgang mit Corona und die Rolle von Frauen in der Gastronomie.

Frau Raue, mit welchem Gefühl gehen Sie aus diesem Jahr? Gibt es etwas, dass Sie zuversichtlich stimmt?

Marie-Anne Raue: Ich schließe dieses Jahr mit sehr gemischten Gefühlen ab. Ich versuche für die Menschen um mich herum und meine Mitarbeiter ein Vorbild zu sein und nicht nur positiv zu sein, sondern auch so zu handeln. Für meine Mitarbeiter überlege ich mir, was ich ihnen Gutes tun kann, welche Weiterbildung ich ermöglichen kann und welche Modernisierungen dem Betrieb nutzen könnten. Privat habe ich gerade angefangen, eine Liste zu machen, welche Restaurants ich nächstes Jahr gerne besuchen möchte und welches meine nächsten Urlaubsziele sind. Aber am allermeisten freue ich mich darauf, unsere tollen Gäste nächstes Jahr wieder bei uns begrüßen zu dürfen. Denn die Freude, die ich von den Gästen zurückgespiegelt bekomme, ist ein großes Geschenk, für das ich sehr dankbar bin.

Wie meistert Ihr Restaurant den Teil-Lockdown?

Raue: Der zweite Lockdown ist für uns als Unternehmer eine viel größere Herausforderung als der erste. Wir haben zwar schon sehr früh angefangen, im Hintergrund unseren Lieferservice «Fuh Kin Great» wieder vorzubereiten. Da ich aber die Idee hatte, nun auch ganze Menüs deutschlandweit zu versenden, war es vom organisatorischen Handling her eine zusätzliche Mammutaufgabe, die wir als Team zu meistern hatten. Letztlich ist es so, dass mein Geschäftspartner Tim und ich uns es als Ziel gesetzt haben, auch diesmal in allen Monaten des Lockdowns unseren Mitarbeitern das Kurzarbeitergeld auf 100 Prozent aufzustocken. Unser Problem ist, dass wir Realisten sind. Und nach der Entwicklung der aktuellen Zahlen rechnen wir nicht damit, dass die Restaurants in Deutschland vor Februar oder März 2021 wieder öffnen dürfen. Außerdem merkt man, dass in diesem Teil-Lockdown die Menschen viel mehr zu Hause kochen und weniger bestellen.

Wie schnell war im März 2020 die Idee entstanden, einen Lieferservice aufzuziehen?

Raue: Ich kriege immer noch Gänsehaut, wenn ich an diesen Moment denke. Wir haben alle relativ schnell verstanden, dass da was kommt und uns schon früh Gedanken dazu gemacht, was wäre, wenn wir einen Lockdown haben. Und dann habe ich Tim eines Nachts über WhatsApp geschrieben «Was hältst du davon, wenn wir einen Lieferdienst aufmachen würden?» Denn die Leute müssen ja essen und wollen vielleicht auch mal was anderes, als das Selbstgekochte. Und dann schrieb er: «Ja, hab ich mir auch schon Gedanken drüber gemacht, hab ich im Kopf.»Als wir wussten, dass wir das Restaurant schließen müssen, haben wir alles an Lebensmitteln weggegeben, was wir nicht mehr verbrauchen konnten. Dann haben wir drei Tage lang erstmal nichts gemacht und das Ganze auf uns wirken lassen. Aber dann haben wir relativ schnell gesagt: «Okay, wir machen das.» Tim ist dann wie eine Maschine. Er hat umgeschaltet, die ganzen Rezepturen geschrieben. Die Gerichte, die wir hier auf dem Teller haben, kann man nicht eins zu eins an den Gast bringen. Dann haben wir einfach funktioniert. Wir haben morgens die ganzen Gerichte gepackt, die die Leute am Vortag bestellt hatten. Und ich habe nachts Routen geplant und ausgerechnet, wie viele Tüten in ein Auto passen.

Lassen Sie uns übers Essen sprechen: Wie ist das für Sie, wenn Sie selbst essen gehen?

Raue: Schwierig! Ich bin ein sehr sensibler Mensch, der sehr viel wahrnimmt. Das ist mit Sicherheit eine ganz positive Eigenschaft als Gastgeberin, weil man Zwischentöne wahrnimmt. Wenn ich selber essen gehe, fällt es mir sehr schwer, das auszublenden. Aber ich gehe natürlich sehr, sehr gerne essen. Für mich ist Essen Lebensfreude, und wenn ich etwas genießen darf, was ein besonders schönes Geschmacksspiel hat, dann ist das für mich das Größte und Beste, was mir passieren kann. Nur leider bin ich halt ab und zu wirklich abgelenkt davon, was um mich herum passiert. Und wenn dann am Nebentisch die Gäste nervös sind, weil sie etwas bestellen wollen, sie aber nicht gesehen werden, werde ich automatisch auch nervös. Ich muss das immer wieder üben, dass ich das ausblende.

Empfinden Sie es als anstrengend, wenn privat jemand für Sie kocht?

Raue: Nein, überhaupt nicht. Da bin ich wirklich sehr entspannt. Ich habe auch gute Freunde, die zum Glück da gar keine Berührungsängste haben, weil ich ein Zwei-Sterne-Restaurant besitze.

Was gibt es zu essen, wenn Sie für sich kochen?

Raue: Ich koche natürlich Italienisch und dann am liebsten immer nach Kochbüchern. Ich probiere gerne neue Rezepte aus, Gnocchis oder Osso Buco. Ich zelebriere das, dass ich am Samstag noch zu meinem Gemüsehändler und zu meinem Fleischhändler gehe und dass ich mir dann schöne Sachen aussuche und das dann am Sonntag zubereiten kann. Dann trinke ich da ein Gläschen Wein dazu und genieße das einfach. Das ist dann so meine Zeit, die ich für mich habe. Und ich bin eine große Grill-Liebhaberin und habe einen voll ausgestatteten Grill bei mir auf der Terrasse stehen. Ich grille eigentlich das ganze Jahr über.

Was wird es bei Ihnen zu Weihnachten geben?

Raue: Falls es dieses Jahr wieder so warm wird, wie in den vergangenen Jahren, werde ich wieder grillen. Ich werde mir bei meiner Lieblingsfleischerei ein fantastisches Kalbskarree kaufen und dazu mariniertes Gemüse grillen und auch die schönen kleinen Grenaille-Kartoffeln, die dann noch mit groben Meersalz bestreut werden. Dazu noch eine selbst gemachte Barbecuesoße. Et voilà, das Festessen ist perfekt.

Was ist Ihr Lieblings-Plätzchen-Rezept?

Raue: Ich backe am liebsten mit Dinkel-Vollkornmehl. Dadurch bekommen die Plätzchen einen nussigen und kernigen Geschmack. Ich verwende 400g Dinkel-Vollkornmehl, 1 Ei, 200g brauner Rohrzucker, 250g Butter, gemahlene Vanille und Zimt nach Geschmack, Schokolade oder Kuvertüre nach Geschmack zum Überziehen der Plätzchen. Erst das Ei, den Zucker und die Butter cremig rühren und dann das Mehl mit den Gewürzen dazu geben, mindestens 40 Minuten im Kühlschrank in Klarsichtfolie eingewickelt ruhen lassen, danach ausrollen und beliebig ausstechen. Bei 175 Grad Umluft 12 bis 16 Minuten backen, den Ofen unbedingt im Auge behalten! Danach nach Belieben mit geschmolzener Schokolade oder Kuvertüre überziehen.

Ist in Ihrer Küche schon mal so richtig etwas schief gegangen?

Raue: Oh ja. Ich wollte letztens Blumenkohlpizza ausprobieren. Das war die größte Katastrophe, die ich jemals hatte. Das war geschmacklich sehr schwierig, obwohl ich Blumenkohl eigentlich liebe. Ich musste es am Ende wegwerfen.

Sie arbeiten in einer sehr männerdominierten Branche. Warum ist es für Frauen so schwer, sich in der Spitzengastronomie zu behaupten?

Raue: Ich glaube, das ist auch ein hausgemachtes Problem. Es sind zwei Sachen, die mir aufgefallen sind. Das eine: Wir Frauen supporten einander nicht. Und das andere ist, dass viele Frauen, die Karriere machen möchten, aber auch eine Familie gründen wollen, nicht mehr zurückfinden in ihre Position. Das Konkurrenzverhalten in der Branche ist sehr stark. Und wenn man dann niemanden hat, der einen als Partner unterstützt, dann ist das sehr schwierig, da wieder rein zu finden. Und dann natürlich die Arbeitszeiten: Insgesamt denke ich, wir hätten viel mehr tolle Köchinnen und Gastgeberinnen, wenn wir diese Arbeitszeit im Schichtsystem oder an den Wochenenden nicht hätten. Ich möchte gerne, dass unsere Branche weiterexistieren kann. Und das kann sie nur, wenn wir Veränderungen vornehmen. Und es ist ein Teil der Veränderung, dass wir uns solchen Dingen bewusst werden müssen.

Gibt es auch heute noch Situationen, in denen Sie sich nicht Ernst genommen fühlen?

Raue: Ja, immer noch. Zum Beispiel wenn jemand den Chef sprechen will. Man darf aber auch nicht vergessen, dass ich nicht die sichtbare Person an dem Unternehmen bin oder bisher war. Ich wollte das auch nie so wirklich, ich war auf diese Außenkommunikation nicht so scharf. Aber durch die private Trennung von Tim hat sich das natürlich auch alles so ein bisschen verändert. Tim hat ja auch noch viele andere Projekte. Die Person, die im Restaurant eigentlich immer vor Ort ist, bin ich. Ich finde es dann manchmal fast lustig, dass wir nicht beide als Geschäftspartner wahrgenommen werden. (dpa/Foto: Restaurant Tim Raue/dpa-tmn)

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